Aktiv im Gartencenter

Ab und an begebe ich mich zu einem schönen großen Gartencenter, um Pflanzen für Haus und Garten einzukaufen. Auch wenn ich dort lieber einkaufe als im Supermarkt, ist es am Ende des Tages ein Einkauf. Und Einkaufen macht mir keinen Spaß, stresst mich. Und ich bin froh, wenn ich wieder wohlbehalten zuhause bin. Ich schnappe mir einen Einkaufswagen und betrete das Gartencenter. Gruppen von älteren Herrschaften stehen in den Gängen und zeigen sich entzückt über die Blumenarrangements. Sie sind Teilnehmer von organisierten Busfahrten, die das Gartencenter im Rahmen einer Tour ansteuern. Die Blumen sind wirklich schön anzusehen, muss ich zugeben. Allerdings kann ich es mir nicht leisten, den halben Tag in diesem Center zu verbringen, die Schönheit der Pflanzen zu bewundern und sodann im Café im Obergeschoss Kaffee und Kuchen zu mir zu nehmen Schade eigentlich, beschleicht mich kurz ein Gefühl von Neid. Aber ich habe einen Zeitplan einzuhalten. Mit hohem Tempo steuere ich durch das Geschäft, lade Orchideen, Buchsbäume, Rindenmulch und Gartenerde in meinen Wagen, schlängle mich an den Menschentrauben vorbei und begebe mich Direttissima zum Kassenbereich.

Ich bereite mich innerlich auf die nun folgenden Schritte vor. Zehnmal tief ein- und ausatmen. Mir eine schöne Blumenwiese vorstellen, mit Schmetterlingen und Bienen, die von Blume zu Blume fliegen. Marienkäfer. Dann ist es soweit, ich darf zu der netten, in Grün gekleideten Kassiererin vorrücken. Diese bewertet meinen Einkauf und präsentiert die Rechnung. Ich zahle und hoffe, dass es dieses Mal nicht wieder passiert. Dass ich mich mit meinem Einkauf einfach so davon stehlen darf, unbeachtet und somit vollkommen frei.

‚Dann lassen Sie sich bitte die Pflanzen gut von meiner Kollegin dort drüben einpacken‘, appelliert die Kassiererin an meine Vernunft. ‚Wir müssen die Pflanzen vor der Kälte draußen schützen‘. ‚Es geht schon wieder los!‘ denke ich und bemerke, wie mir die Halsschlagader leicht anschwillt. Ich versuche, mich durch ruhiges Atmen zu beruhigen. Natürlich werde ich den wohlgemeinten Ratschlag wie immer ignorieren. Es sei denn, wir haben draußen wirklich Frost. Aber dem ist nicht so, und daher schiebe ich den Einkaufswagen so schnell es geht an der Kasse vorbei gen Ausgang. Ich habe auch wirklich keine Zeit mehr, das Verpacken der Blumen dauert immer sehr lange. Der Tag ist voller Termine. ‚Halt‘! schreit mir die mit dem Verpacken der Pflanzen betraute Dame hinterher. ‚Bleiben Sie stehen‘! Einige Kunden drehen sich in Richtung des Geschehens. Ich folge der Anweisung und drehe mich zu ihr um. ‚Sie können so nicht gehen‘ sagt sie mit vor Empörung zitternder Stimme. ‚Ihre Pflanzen werden sterben‘. Die Senioren in unserer Nähe setzen ein mitleidiges Gesicht auf. Mit spitzem Unterton erwidere ich ‚Ich habe diese Pflanzen gekauft, sie gehören mir. Ihr Leben liegt nun in meiner Verantwortung. Ich werde jetzt gehen und lasse mich nicht aufhalten‘.

Als ich die Pflanzen in meinen Wagen lade, denke ich über das soeben Erlebte nach. Wieso bin ich immer noch so wütend? Die Mitarbeiterin des Gartencenters hat es doch nur gut gemeint mit den Pflanzen. Dahinter steht zudem eine Arbeitsanweisung, und sie macht einfach nur ihre Arbeit. Vermutlich gab es schon Reklamationen durch Kunden, dass deren Blumen nach kurzer Zeit starben. Und es stellte sich heraus, dass sie sie in der Kälte ohne Schutz transportiert hatten. Somit ist das Verhalten sicherlich gut begründbar.

Die anderen Kunden wurden ähnlich behandelt und ließen sich die Pflanzen einpacken. Sie hatten offenbar überhaupt kein Problem mit dem aus meiner Sicht sehr übergriffigen Verhalten des Personals des Gartencenters. Es gab also einen Unterschied zwischen diesen Kunden und mir. Aber welchen? Auf der Heimfahrt kramte ich in meinem Gedächtnis und hatte bald eine Erklärung. Mein Verhalten bestätigte wieder einmal, dass ich in Bezug auf den Grundkonflikt ‚Autonomie versus Abhängigkeit‘ stark im aktiven Modus bin. Was bedeutet das? Der Grundkonflikt nach Sigmund Freud ist ein Fachbegriff aus der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie und beschreibt einen zentralen Konflikt in der Lebensentwicklung eines Menschen. Um einen solchen Konflikt zu bewältigen, ist es erforderlich, sich zwischen zwei Zielen zu entscheiden, die sich gegenseitig ausschließen. Typisch an diesen Konflikten ist, dass wir kein sowohl als auch zulassen, dass wir sie entweder dauerhaft im stark passiven oder stark aktiven Modus erleben und in ihm agieren. Das wissenschaftlich begründete Modell der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik unterscheidet acht Konflikttypen. In abgeschwächter Form wird fast jeder Mensch an sich Hinweise auf den einen oder anderen Konflikttypus entdecken können. Und der alle anderen überragenden Konflikte lautet ‚Abhängigkeit versus Autonomie‘. Er dreht sich um unsere Suche nach Bindung und Beziehung einerseits und unser Streben nach Unabhängigkeit auf der anderen Seite. Und genau dort liegt der Hund begraben. In dem Feld, das sich zwischen den zwei Polen aufspannt, befinde ich mich recht weit rechts, strebe also der Autonomie zu. Durch das Verhalten der Mitarbeiterin des Gartencenters fühlte ich mich eingeengt, bevormundet, an der freien Entfaltung meines Willens gehindert. Und die mich umgebenden anderen Kunden des Gartencenters hatten diesen Grundkonflikt vermutlich nicht. Oder sie befanden sich mehr im passiven Modus und genossen die Zuwendung.

Bei meinem nächsten Besuch im Gartencenter ließ ich mir die Pflanzen bereitwillig einpacken. Die fünf weiteren Minuten war ich bereit zu investieren. Einmal aus Respekt vor den freundlichen Damen. Und weil ich ebenfalls ein Interesse daran hatte, dass meine Pflanzen möglichst lange lebten. Es gelang mir somit, eine günstigere Strategie anzuwenden als das Mal davor.