Zweifelhafte Privilegien

Vor einiger Zeit war ich Bahn Komfort Kundin bei der Deutschen Bahn. Damals noch als Unternehmens-beraterin tätig, war ich beruflich viel unterwegs und konnte dadurch mühelos die für das Erreichen des Vielfahrer-Status notwendigen Statuspunkte sammeln. So richtig spürbar war die von der Deutschen Bahn angestrebte Verstärkung der Kundenbindung durch das Einräumen zusätzlicher Serviceleistungen und Rabatte für mich nicht. Netter und missglückter Versuch, das Vielfliegerprogramm der Lufthansa zu kopieren, war meine Bewertung.

Aufgrund der Veränderung meiner beruflichen und privaten Situation fuhr ich über ungefähr zwei Jahre lang kaum mehr mit der Bahn. Um nach Ablauf dieser Zeit eine private Reise zu tätigen, begab ich mich am Münchner Hauptbahnhof zum Servicecenter der Deutschen Bahn, um eine Fahrkarte zu reservieren. Es gab dort zwei Schalter, einen für Bahn Komfort Kunden und einen für den Rest der Welt. Ich stellte mich in die kurze Warteschlange für die Bahn Komfort-Kunden und gelangte noch ein paar Warteminuten zum Schalter. Dort saß eine recht junge Dame mit einem mürrischen Gesichtsausdruck. Ich formulierte mein Anliegen und reichte ihr die Karte, die mich als Bahn Komfort-Kundin auswies. Die Dame nahm die Karte, tippte auf ihrer Tastatur herum und schaute dann auf den Bildschirm ihres Computers. ‚Sie sind kein Bahn Komfort-Kunde mehr‘, stellte sie fest. ‚Ihre Statuspunkte sind verfallen‘. ‚Macht nichts‘. dachte ich mir. ‚Die Punkte haben mir ohnehin nicht viel gebracht. Den lauwarmen Wiedergutmachungs-Kaffee für das Vergeuden meiner Lebenszeit durch Verspätungen, Missmanagement und so weiter können sie sich auch irgendwo hinstecken‘. Natürlich war ich höflich und respektvoll genug, um diesen Gedanken nicht laut auszusprechen und schaute gleichmütig drein. Was danach kam, brachte mich dann doch etwas aus dem inneren Gleichgewicht. ‚Und weil sie kein Bahn Komfort-Kunde mehr sind, haben Sie auch nichts an meinem Schalter zu suchen. Stellen Sie sich drüben an‘. Ich bedachte sie mit einem ‚Ihr Verhalten ist unfassbar‘! und erledigte meine Zugreservierung am Rest-der-Welt-Schalter. Danach brauchte ich ungewöhnlich lange, um mich wieder zu beruhigen.

Doch was war geschehen, das mich so sehr aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte? Zunächst fragte ich mich, welche Gefühle die soeben erlebte Situation in mir ausgelöst hatte. Wut und Empörung, aber auch eine Art Schmerz, Verletzung. Diese Art von Gefühlen wird von Psychologen auch als Unlust-Gefühle bezeichnet. Und Unlustgefühle entstehen dann, wenn Bedürfnisse nicht erfüllt sind. Welches Bedürfnis war nicht erfüllt? Ich hatte das Bedürfnis, von meinem Gegenüber respektvoll behandelt zu werden, auf Augenhöhe. Und dieses Bedürfnis hatte die Bahn Komfort-Dame nicht erfüllt und somit mehrere Jahre der Bemühungen ihres Arbeitgebers um mich als Trägerin eines privilegierten Status in einer Minute zunichte gemacht.

Das trotzige Kind in mir überlegte kurz, meine Deutsche Bahn Aktien zu verkaufen oder ab jetzt nur noch zu fliegen. Die Erwachsene beruhigte das kleine Kind und sagte ‚Dadurch schadest Du nur Dir selbst‘. Ich beschloss, das Kapitel zu schließen. Aber irgendetwas nagte noch an mir. Ich wollte besser verstehen, was es mit meinem Bedürfnis, respektvoll behandelt zu werden, auf sich hatte.

Und dann hatte ich einen Gedanken. Wie war das noch mit Kant und der Menschenwürde? Die Menschenwürde ist nach moderner Auffassung der Wert, der allen Menschen gleichermaßen und unabhängig von ihren Unterscheidungsmerkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Alter oder Status zugeschrieben wird.

Um es mit den Worten Immanuel Kants auszudrücken, ‚bestehe das Grundprinzip der Menschenwürde in der Achtung vor dem Anderen, der Anerkenntnis seines Rechts zu existieren und einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen‘.

Natürlich hatte die Mitarbeiterin der Deutschen Bahn einen Ermessensspielraum, den sie im konkreten Fall nicht im Sinne des Kunden nutzte. Meinen tiefen Fall in die Niederungen des normalen Bahnkunden hätte sie durchaus abmildern können, indem sie mich noch ein letztes Mal selbst betreute. Sie verhielt sich in dieser Situation streng nach Vorschrift. Mit der Achtung meiner Menschenwürde hatte das sehr wenig zu tun. Und nun? Brachte diese Erkenntnis mich in irgendeiner Weise weiter? Ja, denn ich hatte entdeckt, wie wichtig meine eigene Menschenwürde mir war. Ich war dankbar, einen bewussten Zugang dazu gewonnen zu haben. Und wünschte der Bahn Komfort-Mitarbeitern, dass sie ebenfalls Zugang zu ihrer eigenen Würde fände. Und wenn das geschähe, schöpfte sie ihren Ermessensspielraum künftig vermutlich im Sinne des Kunden aus.