Narrare humanum est

Wie schön ist es doch, sich wieder leichtfüßig und unbeschwert durch die Welt zu bewegen. Ohne FFP2-Maske im Gesicht, die das Atmen erschwert. Ohne sich dauernd Sorgen um eine mögliche lebensbedrohliche Erkrankung der eigenen Person und der Angehörigen machen zu müssen. Und ohne sich in einem wöchentlich zunehmend komplexen Regelkanon zu verlieren.

Auch die teilweise skurrilen Diskussionen während der Corona-Pandemie werde ich nicht vermissen, wenngleich ein paar davon mich bis heute beschäftigen. Ich erinnere mich an die Dame, mit der ich während der zweiten Corona-Welle ins Gespräch kam. Sie belegte an einem Sonntagmorgen den Spind neben mir in der Umkleidekabine meines Sportstudios.

Nach etwas Smalltalk kamen wir rasch auf den Elefanten im Raum namens Corona zu sprechen. Die Dame war sich ganz sicher, dass das Virus von der Pharmaindustrie erzeugt und verbreitet worden sei. Letztere bereichere sich an der massenweisen Produktion des Impfstoffes. Mit dieser Story war ich alles andere als einverstanden und versuchte, sie wieder auf den Boden meiner persönlichen Tatsachen zurückzuführen. Warum es denn dann so lange gedauert habe, den Impfstoff zu erzeugen? Ich als Pharmakonzern hätte den Impfstoff bereits vorrätig gehabt und erst dann das Virus auf die Weltbevölkerung gehetzt, versuchte ich die Darstellung meiner Spind-Nachbarin durch eine für mich plausibel klingende Erklärung ad absurdum zu führen.

Doch mein Gegenüber ließ sich nicht überzeugen. Es sei doch vollkommen klar, warum man den schon lange zuvor entwickelten Impfstoff erst so spät an die Impfstellen herausgegeben habe. Man habe keinen Verdacht bei der Bevölkerung erregen wollen. Schnell weg, dachte ich mir daraufhin, schnappte meine Yogamatte und eilte zum Kurs.

Bei der Tiefenentspannung am Ende des Kurses begann ich damit, das Gespräch zu verarbeiten. Unglaublich, wie polarisierend manche Themen wirken. Ich hatte kein Interesse verspürt, das Gespräch fortzusetzen. Aus meiner Sicht war ich an eine Verschwörungstheoretikerin geraten. Ich denke, vielen von uns ist es schon ähnlich ergangen. Es gibt einfach Themen, die ganze Nationen spalten. Prominente Beispiele dafür sind die Debatten über Reptiloide, QAnon und natürlich auch Corona.

Am Anfang stehen Meinungsverschiedenheiten beim Barbecue, im Tennisclub, bei Familienfeiern. Das Verständnis für einander nimmt im Zuge immer mehr ab, so dass irgendwann keine Begegnung auf Augenhöhe mehr möglich erscheint.

Eine starke Beteiligung an dieser Dynamik des Auseinanderdriftens haben Narrative, die kleinsten Erzähleinheiten, die sich immer wieder neu in Erzählungen sowie konkreten Geschichten manifestieren.

Bereits der frühe Mensch fand, gruppiert um das gemeinsame Lagerfeuer, zum Erzählen. Somit konnten die Erfahrungen der anderen zu den eigenen werden. Das Erzählen prägt bis heute Denken, Sprechen und Verhalten der Menschen. Und nicht nur das, ist der Mensch doch viel mehr ein narratives als ein rationales Wesen. Unsere Weltorientierung funktioniert primär über Geschichten und weniger über Fakten. Wir neigen dazu, uns selbst und im nächsten Schritt anderen diejenigen Geschichten zu erzählen, die unsere Bedürfnisse erfüllen. Wir folgen unserem narrativen Pfad, der uns gute Gefühle verschafft. All das, was uns Unlustgefühle beschert, wird aus der Story verbannt. Das Ganze hat viel mit der Funktionsweise unseres Gehirns zu tun.

Unser Gehirn verbraucht bereits im Ruhezustand für die auch dann noch ablaufenden Prozesse bereits zwanzig Prozent der vom Körper insgesamt bereitgestellten Energiemenge. Dieser Energieverbrauch steigt dramatisch an, sobald wir nun auch noch zu denken anfangen, ein Problem lösen, Konflikte austragen oder etwas Neues lernen müssen. Die Überlastung führt zu unangenehmen Gefühlen und schließlich zu körperlicher Erschöpfung. Um dies zu vermeiden, sorgt das Gehirn für eine möglichst optimale Nutzung der vom Körper bereitgestellten Energiereserven. Wir verdrängen Ungemach und reden uns Schlechtes so richtig schön. Oder wir erfinden einfach eine Alternative zu dem, was faktisch basiert ist.

Verschwörungstheorien liefern einfache Antworten in schwierigen Zeiten. Menschen halten das Gefühl der Ohnmacht nur sehr schwer aus. Die Stories geben ihnen Halt, liefern Erklärungsansätze für komplexe, schwer greifbare Phänomene.

Noch einmal zurück zur Ausgangsstory. Die Dame am Spind hatte die Pharmaindustrie als klaren Verursacher der Corona-Pandemie identifiziert und fühlte sich mit dieser Story offensichtlich wohler als ohne sie.

Wir alle haben unsere Vielzahl an Narrativen, die uns teilweise unbewusst sind. Nur ist es im Normalfall so, dass wir sie regelmäßig einem Faktencheck unterziehen. Dann stellen wir fest, dass einige davon dem Faktencheck nicht standhalten können und verwerfen sie.  

Verschwörungstheorien lassen sich jedoch kaum mit Fakten bekämpfen. Bei der Dame im Sportstudio kam ich mit meinem Appell an Sachlogik keinen Schritt weiter. Es kann dann wirksam sein, dem Gegenüber eine neue Story zu erzählen, die die Verschwörungstheorie entkräftet. Stories sind wirksamer als Fakten. Und wenn auch das nicht weiter hilft, sollte man freundlich aber bestimmt das Gespräch beenden und seines Weges ziehen. Auf in die nächste eigene Story.